Chronodynamik des Erdklimas: Eine 17-Millionen-Jahre-Rekonstruktion
- Dirk Neubauer

- 14. Dez.
- 14 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. Dez.
Die Simulation des "Paläoklima-Tages" mittels KI: 17,28 Millionen Jahre in nur 24 Stunden - Wenn die Erdgeschichte ein Tag wäre
von Dirk Neubauer

Die Zeitliche Kompression als Analytisches Instrument
Das Verständnis der gegenwärtigen anthropogenen Klimaveränderungen erfordert eine kontextuelle Einbettung in die tiefe geologische Vergangenheit unseres Planeten. Die bloße Betrachtung von Messdaten der letzten Jahrzehnte oder Jahrhunderte greift zu kurz, um die fundamentalen Mechanismen zu erfassen, die das Erdsystem zwischen Treibhaus- ("Hothouse") und Eishaus-Zuständen ("Icehouse") pendeln lassen.
Um die gewaltigen Zeiträume des Neogens und Quartärs für das menschliche Vorstellungsvermögen greifbar zu machen und die Dramatik der aktuellen Erwärmung zu visualisieren, wird in diesem Bericht eine spezifische zeitliche Metapher angewandt, wie sie in der Aufgabenstellung gefordert wurde: Der "Paläoklima-Tag".
In diesem Modell wird der Zeitraum der letzten 17.280.000 Jahre (17,28 Ma) auf

einen einzigen 24-Stunden-Zyklus komprimiert. Diese Zeitspanne umfasst das mittlere bis späte Miozän, das gesamte Pliozän, das Pleistozän sowie das Holozän. Die Umrechnung basiert auf der Prämisse, dass die letzte Sekunde des Tages die vergangenen 200 Jahre der Industriegeschichte repräsentiert. Daraus ergibt sich folgende Skalierung:
1 Sekunde = 200 Jahre
1 Minute = 12.000 Jahre (ungefähr die Dauer des Holozäns)
1 Stunde = 720.000 Jahre
24 Stunden = 17.280.000 Jahre
Alles beginnt also um 00:00 Uhr im Burdigalium (frühes Miozän), einer Zeit, in der die Erde noch signifikant wärmer war als heute und große Teile der Antarktis eisfrei waren. Er durchläuft die klimatischen Optima des Mittleren Miozäns ("Vormittag"), die langsame Abkühlung des Neogens ("Nachmittag"), den Übergang in die zyklischen Vereisungen des Pleistozäns ("Abend") und kulminiert im "letzten Wimpernschlag" vor Mitternacht – dem Anthropozän.
Ziel dieses Berichts ist es, eine wissenschaftlich fundierte, narrative Rekonstruktion der globalen Mitteltemperatur (Global Mean Surface Temperature, GMST) und der atmosphärischen CO₂-Konzentrationen für dieses Zeitfenster zu liefern. Dabei werden die geodynamischen Treiber – von der Plattentektonik über orbitale Zyklen bis hin zu biogeochemischen Rückkopplungseffekten – detailliert analysiert, um die Anomalie der "letzten Sekunde" in ihrer vollen Signifikanz darzustellen.
Der Vormittag: Das Miozän (17,28 Ma – 11,6 Ma)
00:00 – 04:00 Uhr | Tektonische Weichenstellungen im Burdigalium
Zu Beginn unserer Simulation, um Punkt 00:00 Uhr vor etwa 17,28 Millionen
Jahren, befand sich das Erdsystem in einer Phase des Umbruchs. Wir befinden uns im Burdigalium, einer Stufe des frühen Miozäns. Die kontinentale Konfiguration unterschied sich zwar nicht radikal von der heutigen, doch entscheidende maritime Passagen waren noch offen oder im Begriff, sich zu schließen, was tiefgreifende Auswirkungen auf die globale Wärmeverteilung hatte.
Die Tethys-See, einst ein gewaltiger Ozean, der die Kontinente Gondwana und Laurasia trennte, befand sich in den letzten Zügen ihrer Existenz. Die Kollision der Afrikanischen und Indischen Platte mit Eurasien schnürte diese Verbindung zunehmend ab. Dennoch existierte zu Beginn unseres "Tages" noch eine Verbindung zwischen dem Indischen Ozean und dem Atlantik durch den Mittelmeerraum.1 Diese Verbindung erlaubte einen zirkumäquatorialen Strom, der warmes, salzhaltiges Wasser um den Globus transportierte und so die Bildung starker meridionaler Temperaturgradienten verhinderte. Die Erde war in diesem Stadium bereits wärmer als im vorangegangenen Oligozän, und die CO₂-Werte begannen, getrieben durch vulkanische Aktivitäten, zu steigen.
Ein wesentlicher Treiber dieser frühen Erwärmung war der Columbia-River-Basalt-Vulkanismus im heutigen Nordwesten der USA. Diese massiven Flutbasalteruptionen, die ihren Höhepunkt vor etwa 16,7 Millionen Jahren erreichten (in unserer Simulation gegen 00:48 Uhr), setzten gigantische Mengen an Kohlendioxid in die Atmosphäre frei. Isotopenuntersuchungen an fossilen Pflanzenblättern und Bor-Isotopen in marinen Karbonaten deuten darauf hin, dass die atmosphärische CO₂-Konzentration in dieser Phase auf Werte zwischen 400 und 600 ppmv (parts per million by volume) anstieg.1 Dieser vulkanische Impuls legte das fundamentale Treibhausgas-Fundament für das klimatische Optimum, das den "Vormittag" prägen sollte.
04:00 – 08:00 Uhr | Das Mittelmiozäne Klimaoptimum (MMCO)
Zwischen 04:00 Uhr und 08:00 Uhr unserer Simulation (ca. 16,9 bis 14,7 Ma) trat die Erde in das Mittelmiozäne Klimaoptimum (MMCO) ein. Dies war die wärmste Phase der letzten 35 Millionen Jahre und stellt einen der wichtigsten Referenzpunkte für das Verständnis eines "Treibhaus-Erde"-Zustands dar, der bei ungebremsten Emissionen in Zukunft wiederkehren könnte.
Thermodynamische Charakteristika:
Während des Höhepunkts des MMCO lag die globale Durchschnittstemperatur (GMST) schätzungsweise 3°C bis 4°C über dem vorindustriellen Niveau (1850-1900).1 Andere Rekonstruktionen, die speziell die Oberflächentemperaturen der Ozeane (SST) mittels Mg/Ca-Verhältnissen in Foraminiferen untersuchen, deuten sogar auf Anomalien von bis zu +6°C hin.
Entscheidend ist jedoch nicht nur der absolute Mittelwert, sondern die Verteilung dieser Wärme. Der Temperaturgradient zwischen Äquator und Polen war extrem flach. Während die Tropen nur mäßig wärmer waren als heute (was auf eine mögliche thermostatische Regulierung durch Wolkenbildung oder Verdunstung hindeutet), erlebten die hohen Breiten eine massive Erwärmung – ein Phänomen, das als Polare Amplifikation bekannt ist.
Die "Grüne Arktis" und Antarktis:
Paläobotanische Befunde zeichnen das Bild einer radikal anderen Welt in den Polarregionen. In der Arktis, wo heute Tundra und Meereis dominieren, wuchsen gemischte Nadel- und Laubwälder bis an die Küsten des Arktischen Ozeans. Fossilienfunde belegen die Existenz von Metasequoia (Urweltmammutbaum) und sogar wärmeliebenden Reptilien wie Krokodilen in Breiten, die heute Permafrostgebiete sind.
Auch die Antarktis präsentierte sich in einem anderen Gewand. Zwar existierten bereits Eiskappen, doch war das Ostantarktische Eisschild (EAIS) deutlich kleiner und dynamischer, möglicherweise auf 25% seines heutigen Volumens reduziert.2 Die Ränder des Kontinents waren vegetationsbedeckt, und das Westantarktische Eisschild (WAIS) existierte höchstwahrscheinlich noch nicht, da weite Teile der Westantarktis unter dem Meeresspiegel lagen und eisfrei waren.
Hydrologischer Zyklus und Niederschlag:
Die Wärme des MMCO ging mit einem intensivierten hydrologischen Zyklus einher. Die Verdunstungsraten über den Ozeanen waren hoch, was zu erhöhten Niederschlägen auf den Kontinenten führte. In Europa, speziell im Nordalpinen Vorlandbecken, herrschte ein subtropisches Klima mit Jahresmitteltemperaturen von 21-22°C.2 Die Niederschlagsmuster waren jedoch saisonal stark ausgeprägt, was auf die Etablierung erster monsunaler Zirkulationen hindeutet, wenngleich diese noch nicht die Intensität späterer Epochen erreichten.
Tabelle 1 fasst die klimatischen Parameter des MMCO im Vergleich zum vorindustriellen Zustand zusammen:
08:00 – 10:00 Uhr | Die Mittelmiozäne Klimatransition (MMCT)
Gegen 08:00 Uhr unserer Simulation (ca. 14,7 Ma) kippte das Klimasystem. Das MMCO endete nicht schleichend, sondern wurde durch die Mittelmiozäne Klimatransition (MMCT) abrupt beendet. Innerhalb von geologisch kurzen Zeiträumen (ca. 08:00 bis 10:00 Uhr im Modell) kühlte der Planet signifikant ab, und die Erde trat in einen Zustand ein, den man als "Icehouse" bezeichnet.
Dieser Übergang ist in den benthischen Sauerstoffisotopenkurven ($\delta^{18}\text{O}$) als steiler Anstieg erkennbar ("Step"), der sowohl eine Abkühlung des Tiefenwassers als auch den Aufbau von globalem Eisvolumen signalisiert.1
Der primäre Mechanismus für diesen Wandel war eine doppelte Zange aus tektonischer und biogeochemischer Forcierung:
Der Monterey-Event: Organischer Kohlenstoff wurde in massiven Mengen in den Sedimenten des Pazifiks begraben (sichtbar in der Monterey-Formation in Kalifornien). Dieser Entzug von Kohlenstoff aus dem Ozean-Atmosphären-System senkte die CO₂-Konzentration drastisch, wahrscheinlich von ~500 ppm auf Werte um 300 ppm.1
Ozeanische Zirkulation: Die fortschreitende Schließung der indonesischen Seeweg-Passage (Indonesian Throughflow) durch die Nordwanderung Australiens begann, den Wärmetransport vom Pazifik in den Indischen Ozean zu drosseln, was die Ozeanzirkulation in Richtung des heutigen Zustands umstrukturierte und die Isolierung der Antarktis förderte.
Das Resultat war die permanente Vergletscherung der Ostantarktis. Ab diesem Zeitpunkt (ca. 13,8 Ma, ~09:15 Uhr) besaß die Erde wieder eine große, permanente Eiskappe am Südpol, die seither – mit Fluktuationen – Bestand hat.
Der Nachmittag: Das Späte Miozän und Pliozän
(11,6 Ma – 2,58 Ma)
10:00 – 16:00 Uhr | Das Spätmiozäne "Kühlhaus" und die Biologische Revolution
Der Zeitraum von 11,6 bis 5,3 Millionen Jahren (ca. 10:00 bis 16:00 Uhr) ist durch eine graduelle, aber stetige Abkühlung gekennzeichnet. Während die Ozeane noch relativ warm blieben 3, trockneten die Kontinente zunehmend aus. Dies führte zu einer der bedeutendsten ökologischen Revolutionen der Erdgeschichte: Dem Aufstieg der C4-Pflanzen.
Während im feuchteren, CO₂-reicheren Klima des frühen Miozäns C3-Pflanzen (Bäume, Sträucher, bestimmte Gräser) dominierten, begünstigten die sinkenden CO₂-Werte und die zunehmende Aridität im späten Miozän die Ausbreitung von C4-Gräsern. Diese Pflanzen verfügen über einen effizienteren Photosynthese-Mechanismus, der es ihnen erlaubt, auch bei niedrigerem CO₂-Angebot und Wasserstress zu gedeihen.
Die Ausbreitung der Savannen und Steppen veränderte die Albedo (Rückstrahlvermögen) der Landoberflächen drastisch. Helle Graslandschaften reflektieren mehr Sonnenlicht als dunkle Wälder, was zu einer weiteren Abkühlung führte – ein klassischer positiver Rückkopplungsmechanismus.
Gegen 15:00 Uhr (ca. 6 Ma) ereignete sich zudem die Messinische Salinitätskrise: Das Mittelmeer trocknete aufgrund der Schließung der Straße von Gibraltar fast vollständig aus. Dies entzog den Weltmeeren etwa 6% ihres Salzes, was die globale thermohaline Zirkulation beeinflusste und die Bildung von Meereis in den hohen Breiten begünstigt haben könnte.
16:00 – 20:25 Uhr | Das Pliozäne Wärmeintervall
Gegen 16:00 Uhr betreten wir das Pliozän (5,33 Ma). Nach der kühlen Phase des späten Miozäns erlebte die Erde im frühen Pliozän eine erneute Erwärmung, die ihren Höhepunkt im Mittel-Piacenzium-Wärmeintervall (mid-Piacenzian Warm Period, mPWP) zwischen 3,3 und 3,0 Millionen Jahren (ca. 19:20 bis 19:45 Uhr) fand.
Diese Periode ist für die moderne Klimaforschung von herausragender Bedeutung, da sie als das direkteste Analogon für das Klima der nahen Zukunft (2030-2100) gilt.
Die "El Padre"-Welt:
Im mPWP lagen die atmosphärischen CO₂-Konzentrationen zwischen 380 und 420 ppm – exakt in dem Bereich, den wir heute (2024: ~422 ppm) erreicht und überschritten haben.6 Die Reaktion des Klimasystems auf diese Konzentration war jedoch aufgrund der langen Einwirkzeit ("Equilibrium Climate Response") wesentlich ausgeprägter als heute:
Die globale Mitteltemperatur lag
2°C bis 3°C über dem vorindustriellen Wert.7
Der Meeresspiegel lag etwa 25 Meter höher als heute.9 Dies impliziert nicht nur das Abschmelzen Grönlands und der Westantarktis, sondern auch Massenverluste in Sektoren der Ostantarktis (z.B. Wilkes-Becken).
Ein Schlüsselfaktor für diese Wärme war der Zustand des tropischen Pazifiks. Während heute im Ostpazifik kaltes Tiefenwasser aufquillt ("Cold Tongue") und starke Temperaturunterschiede zwischen West und Ost (Walker-Zirkulation) herrschen, war dieser Gradient im Pliozän extrem schwach oder nicht existent.
Dieser Zustand wird als Permanenter El Niño oder "El Padre" bezeichnet.10 Er führte zu einer massiven Ausdehnung des warmen Tropenwassers (Warm Pool), was die globale Atmosphäre mit Wärme und Feuchtigkeit sättigte und Dürren in den Subtropen verhinderte.
Das Panama-Paradoxon:
Gegen 19:00 Uhr (ca. 3,5 - 3,0 Ma) schloss sich der Isthmus von Panama endgültig. Dies unterbrach den Austausch zwischen Atlantik und Pazifik und zwang den Golfstrom in seine heutige Bahn. Paradoxerweise trug dieser Transport von warmem Wasser in den Nordatlantik zur späteren Vereisung bei: Das warme Wasser lieferte die notwendige Feuchtigkeit (Evaporation), die dann in den hohen Breiten als Schnee niederging und – da die Sommer kühler wurden – liegen blieb, um Eisschilde zu bilden.
Der Abend: Das Pleistozän (2,58 Ma – 11,7 ka)
20:25 Uhr | Der Beginn des Eiszeitalters
Um Punkt 20:25 Uhr unserer Simulation (2,58 Ma) überschritt das Erdsystem eine kritische Schwelle. Die Kombination aus langfristig sinkendem CO₂ (unter 300 ppm), tektonischen Barrieren (Panama) und orbitalen Konstellationen löste den Beginn der Nordhemisphärischen Vereisung (NHG) aus. Dies markiert den Start des Pleistozäns.
20:25 – 22:30 Uhr | Die 41.000-Jahre-Welt
In den ersten zwei Stunden des "Abends" (Frühpleistozän) folgte das Klima einem strengen Taktstock: Den Milanković-Zyklen. Speziell die Obliquität (Neigung der Erdachse) mit ihrer Periodizität von 41.000 Jahren dominierte das Geschehen. Die Eisschilde wuchsen und schrumpften in diesem Rhythmus, waren aber im Vergleich zu späteren Phasen noch moderat in ihrer Ausdehnung. Die Interglaziale waren kühl, die Glaziale nicht extrem tief.11
22:30 – 23:59 Uhr | Die Mittlerpleistozäne Revolution (MPT) und die 100.000-Jahre-Welt
Gegen 22:30 Uhr (ca. 1,2 bis 0,8 Ma) veränderte sich die Rhythmik des Planeten fundamental. Im Zuge der Mittelpleistozänen Transition (MPT) wechselte das Klimasystem von 41.000-Jahre-Zyklen zu asymmetrischen 100.000-Jahre-Zyklen (Exzentrizität der Erdbahn).
Die Gründe hierfür sind komplex und Gegenstand aktueller Forschung ("Regolith-Hypothese" vs. "CO₂-Schwellenwert-Hypothese"). Wahrscheinlich führte die Erosion lockeren Gesteinsmaterials (Regolith) unter den nordamerikanischen Eisschilden dazu, dass das Eis nun direkt auf dem Grundgestein auflag ("Stick-Slip"-Dynamik), was den Eisschilden erlaubte, höher und dicker zu wachsen und so stabil genug zu werden, um schwache Warmphasen zu überdauern.11
Das Resultat waren gewaltige "Sägezahn-Kurven": Lange, langsame Abkühlungsphasen (ca. 80.000-90.000 Jahre), in denen sich gigantische Eismassen aufbauten, gefolgt von rapiden Enteisungen (Terminations), die nur wenige tausend Jahre dauerten.
23:59:00 Uhr | Das Letzte Glaziale Maximum (LGM)
Eine Minute vor Mitternacht (ca. 20.000 Jahre vor heute) erreichte der "Paläoklima-Tag" seinen kältesten Punkt: Das Letzte Glaziale Maximum (LGM).
Die Welt um 23:59 Uhr:
Temperatur: Die globale Mitteltemperatur lag etwa 6°C (±1°C) unter dem vorindustriellen Wert.13 In Europa und Nordamerika waren die Abweichungen weitaus extremer (>15°C kühler).
Eisbedeckung: Riesige Eisschilde (Laurentidisch, Fennoskandisch) bedeckten Nordamerika bis hinab nach New York und Chicago sowie Nordeuropa bis Berlin und Moskau.
Meeresspiegel: Da gewaltige Wassermengen im Eis gebunden waren, lag der Meeresspiegel 125 Meter tiefer als heute. Die Nordsee war trockenes Land ("Doggerland"), und Asien war über die Beringbrücke mit Amerika verbunden.14
Atmosphäre: Die Welt war extrem trocken und staubig. Die CO₂-Konzentration war auf 180 ppm gefallen – gefährlich nahe an der Grenze von 150 ppm, unterhalb derer die Photosynthese vieler Pflanzen zum Erliegen kommt.
Die Letzte Minute: Deglaziation und Holozän (19 ka – 1850 AD)
23:59:10 – 23:59:59 Uhr | Das Große Tauen und das Holozäne Optimum
Zwischen 23:59:10 und 23:59:30 Uhr erlebte die Erde eine dramatische Erwärmung. Getrieben durch orbitale Veränderungen (Zunahme der Sommereinstrahlung auf der Nordhalbkugel) und verstärkt durch steigendes CO₂ (Ausgasung aus dem Südozean), kollabierten die großen Eisschilde.
Dieser Prozess verlief nicht linear. Ereignisse wie die Jüngere Dryas (eine kurze, scharfe Rückkehr zu eiszeitlichen Bedingungen um 23:59:20 Uhr) unterbrachen die Erwärmung, ausgelöst vermutlich durch den Zusammenbruch der atlantischen Umwälzzirkulation (AMOC) infolge von Schmelzwasserfluten.15
Um 23:59:30 Uhr (11.700 Jahre vor heute) begann das Holozän. Diese Epoche zeichnet sich durch eine bemerkenswerte klimatische Stabilität aus, die die Entwicklung der menschlichen Landwirtschaft und Hochkulturen erst ermöglichte.
Das Holozäne Thermische Maximum (HTM):
Zwischen ca. 9.000 und 5.000 Jahren vor heute (23:59:35 – 23:59:45 Uhr) erlebte das Holozän sein Wärmemaximum.
Die globale Mitteltemperatur lag etwa 0,5°C bis 0,7°C über dem vorindustriellen Niveau (1850-1900).16
Dies war jedoch regional sehr unterschiedlich: Die Nordhemisphäre war im Sommer aufgrund der Erdbahnparameter (Perihel im Nordsommer) deutlich wärmer, während die Tropen und die Südhemisphäre weniger Anomalien zeigten.
Die Sahara war in dieser Phase eine grüne Savanne mit Seen und Flüssen ("Grüne Sahara"), bedingt durch einen nordwärts verschobenen Monsun.
Ab 23:59:45 Uhr (vor 5.000 Jahren) begann ein langsamer, orbital bedingter Abkühlungstrend. Dieser gipfelte in der Kleinen Eiszeit (LIA), die etwa von 1450 bis 1850 AD andauerte – also den Bruchteil einer Sekunde vor Mitternacht einnahm. In dieser Phase wuchsen die Alpengletscher wieder vor, und die Themse in London fror regelmäßig zu.
Die Letzte Sekunde: Das Anthropozän (1850 AD – Heute)
23:59:59,0 – 00:00:00,0 Uhr | Der Vertikale Schock
In der Simulation repräsentiert die letzte Sekunde die gesamten 200 Jahre seit Beginn der industriellen Revolution.
Klimatische Dynamik der letzten Sekunde:
Betrachten wir den Trend der vorangegangenen "Minuten" (Jahrtausende): Die Erde befand sich auf einem langsamen Abkühlungspfad (Neoglazial), der sie langfristig in die nächste Eiszeit hätte führen sollen. In der letzten Sekunde bricht dieser Trend abrupt ab. Statt einer Fortsetzung der Abkühlung oder einer stabilen Hochebene, schießt die Temperaturkurve vertikal nach oben.
Datenlage 2023/2024:
Die globale Oberflächentemperatur lag 2024 etwa 1,62°C (±0,06°C) über dem vorindustriellen Durchschnitt (1850-1900).19
Über den Landmassen betrug die Erwärmung sogar 2,28°C.19
Die Rate der Erwärmung seit 1975 beträgt ca. 0,20°C pro Jahrzehnt.20
Vergleich der Raten (Velocity of Change):
Um die Ungeheuerlichkeit dieser "letzten Sekunde" zu verstehen, muss man die Raten vergleichen:
Deglaziation (Ende der Eiszeit): Erwärmung um ca. 5-6°C über 8.000 Jahre.
Rate: ~0,07°C pro Jahrhundert.
Anthropozän: Erwärmung um ca. 1,6°C über 150 Jahre (beschleunigend).
Rate: ~1,1°C pro Jahrhundert (aktuell >2,0°C/Jh).
Die Erwärmung in der letzten Sekunde erfolgt also 15 bis 30 Mal schneller als die natürlichste schnellste Erwärmung der jüngeren Erdgeschichte. In der Grafik erscheint dies nicht mehr als Kurve, sondern als senkrechte Wand.
Überschreitung von Paläo-Referenzen:
In dieser einen Sekunde hat die Menschheit:
Die maximale Wärme des Holozäns (HTM) überschritten (+0,7°C vs. +1,62°C). Wir haben den klimatischen "Wohlfühlbereich", in dem sich die Zivilisation entwickelte, verlassen.
Das Temperaturniveau des Eem-Warmzeit (Last Interglacial, ~125 ka) erreicht oder überschritten (+1°C bis +1,5°C).21
Die CO₂-Konzentration des Pliozäns (mPWP, vor 3 Mio. Jahren) wiederhergestellt (>420 ppm)
Das System befindet sich nun in einem extremen Ungleichgewicht ("Transient State"). Die Atmosphäre hat bereits die Zusammensetzung des Pliozäns (19:00 Uhr im Modell), aber die Ozeane und Eisschilde hinken aufgrund ihrer Trägheit noch hinterher.
Würden wir die CO₂-Konzentration auf dem heutigen Niveau stabilisieren, würde sich die Erde langfristig auf die Bedingungen von 19:00 Uhr einpendeln:
+3°C und +25 Meter Meeresspiegel.
Die Metapher des "Paläoklima-Tages" verdeutlicht auf drastische Weise die Exzeptionalität der gegenwärtigen Situation. Über 23 Stunden, 59 Minuten und 59 Sekunden wurde das Klima der Erde von geologischen Zeiträumen, orbitalen Mechaniken und langsamen Rückkopplungen diktiert. Die Temperaturen schwankten, aber die Übergänge waren – gemessen an menschlichen Lebensspannen – fließend.
In der allerletzten Sekunde hat eine einzige Spezies, Homo sapiens, die Kontrolle über den thermostatischen Regler des Planeten übernommen. Durch die Freisetzung von fossilem Kohlenstoff, der über Millionen von Jahren (während des "Vormittags" und "Nachmittags") abgelagert wurde, haben wir einen atmosphärischen Kurzschluss erzeugt.
Wir befinden uns klimatisch nicht mehr im Holozän. Wir haben die stabile Nische verlassen und bewegen uns mit rasender Geschwindigkeit auf Zustände zu, die der Planet zuletzt um 19:00 Uhr (Pliozän) oder – bei ungebremsten Emissionen (RCP 8.5) – um 06:00 Uhr morgens (Miozän) gesehen hat. Der Unterschied liegt in der Geschwindigkeit: Was damals Jahrmillionen dauerte, geschieht heute in Sekundenbruchteilen der geologischen Uhr. Das Ökosystem Erde reagiert auf diesen Schock mit einer Trägheit, die uns eine trügerische Sicherheit vorgaukelt, doch die Richtung des Vektors ist durch die Paläoklimatologie eindeutig vorgezeichnet.
Erweiterte Analyse der Mechanismen (Deep Dive)
Um die wissenschaftliche Tiefe dieses Berichts zu gewährleisten, ist es notwendig, die Mechanismen hinter den Datenpunkten genauer zu beleuchten, insbesondere die Rolle der Proxies (Stellvertreterdaten), die uns diese Rekonstruktion erst ermöglichen. Benutzt wurde für deren Auswertung Gemini 3.0.
Methodik der Paläothermometrie
Wie wissen wir, dass es vor 15 Millionen Jahren 4°C wärmer war? Unsere "Thermometer" für die Vergangenheit sind geochemische Archive:
Benthische (Sauerstoffisotope): Messungen an Kalkschalen von am Meeresboden lebenden Einzellern (Foraminiferen) wie Cibicidoides und Nuttallides. Das Verhältnis von $^{18}\text{O}$ zu $^{16}\text{O}$ gibt Auskunft über das globale Eisvolumen und die Tiefenwassertemperatur. Ein höherer $^{18}\text{O}$-Wert ("schwerer") deutet auf kälteres Wasser und mehr Eis an Land hin.1
Mg/Ca-Verhältnis: Das Verhältnis von Magnesium zu Calcium in Foraminiferenschalen ist temperaturabhängig. Bei wärmerem Wasser bauen die Organismen mehr Magnesium in ihr Kalkskelett ein. Dies erlaubt eine von Eisvolumen unabhängige Temperaturrekonstruktion.2
Alkenone : Organische Moleküle, die von Algen produziert werden. Ihr Sättigungsgrad ändert sich mit der Wassertemperatur und dient als Proxy für die Meeresoberflächentemperatur (SST).3
Clumped Isotopes: Eine moderne Methode, die misst, wie oft schwere Kohlenstoff- und Sauerstoffisotope im Karbonatgitter direkt aneinander gebunden sind. Diese Bindung ist rein thermodynamisch bedingt und liefert absolutere Temperaturen ohne Annahmen über die Chemie des damaligen Meerwassers.25
Die Rolle der Albedo-Rückkopplung
Ein zentrales Thema, das sich durch den gesamten "Paläoklima-Tag" zieht, ist die Eis-Albedo-Rückkopplung.
Im Miozän (Vormittag): Die Abwesenheit von Meereis und die geringe Ausdehnung der Eisschilde bedeuteten, dass die Erde dunkler war (Ozean und Wald statt Eis). Sie absorbierte mehr Sonnenlicht, was die Wärme auch bei moderaten CO₂-Werten (400-500 ppm) verstärkte.
Im Pleistozän (Abend): Die riesigen Eisschilde wirkten wie Spiegel. Sie reflektierten Sonnenlicht ins All, was die Erde weiter abkühlte. Dies erklärt, warum selbst kleine orbitale Veränderungen (Milanković) zu so massiven Temperaturstürzen (-6°C) führen konnten.
Heute (Letzte Sekunde): Wir beobachten das Schwinden des arktischen Meereises ("Arctic Amplification"). Die Arktis wird dunkler, absorbiert mehr Wärme und erwärmt sich daher viel schneller als der Rest des Planeten – wir drehen den Prozess des "Vormittags" im Zeitraffer zurück.
Ozeanversauerung und Karbonatkompensation
Die CO₂-Konzentrationen steuern nicht nur die Temperatur, sondern auch die Chemie der Ozeane.
PETM (Vor dem "Tag", 56 Ma): Ein massiver CO₂-Injektions-Event führte zu einer Versauerung der Ozeane und zur Auflösung von Karbonaten in der Tiefsee.
Miozän: Hohe CO₂-Werte wurden durch verstärkte Verwitterung der jungen Gebirge (Himalaya, Anden) gepuffert. Der Ozean war in einem anderen chemischen Gleichgewichtszustand (Alkalinität), was die Ablagerung der Sedimente ermöglichte, die wir heute analysieren.
Anthropozän: Die heutige Versauerung verläuft so schnell (letzte Sekunde), dass die natürlichen Puffer-Mechanismen (Verwitterung, die Jahrtausende braucht) nicht greifen. Dies bedroht kalkbildende Organismen (Korallen, Foraminiferen) existenziell, was wiederum die biologische Kohlenstoffpumpe schwächen könnte – eine gefährliche positive Rückkopplung, die in der geologischen Vergangenheit so abrupt kaum Vorbilder hat.
Der "Paläoklima-Tag" ist somit nicht nur eine Temperaturkurve, sondern eine Geschichte über die Belastungsgrenzen des komplexen Systems Erde.
Referenzen und Datenquellen:
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Taking the Earth's Temperature Over the Past 485 Million Years | UC Davis, Zugriff am Dezember 14, 2025, https://www.ucdavis.edu/blog/taking-earths-temperature-over-past-485-million-years
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Atmospheric CO2 Mirroring Levels Seen 15 Million Years Ago | Earth.Org, Zugriff am Dezember 14, 2025, https://earth.org/atmospheric-co2-mirroring-levels-seen-15-m-years-ago/
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